„Entschuldigung, wo geht es hier zum Markusplatz?“ Meine Standardantwort auf diese häufige Frage lautet „Immer geradeaus!“, denn in Venedig führen alle Wege zum San Marco. Seit eh und je ist der Markusplatz der Touristenmagnet schlechthin und das erklärte Ziel einer jeden Venedigreise.
Den Markusplatz muss man einfach gesehen haben, sonst war man nicht in der Lagunenstadt. Aber ich gebe euch einen Rat: Genießt den Weg dorthin und schaut nicht auf die Uhr. Verliert euch stattdessen zwischen den Palazzi und namenlosen Höfen und seid offen für alles Unvorhergesehene. Vergesst die Hetze und die Klischees. Wenn man die Ponte della Libertà überquert, die die Insel vom Festland trennt, betritt man nicht etwa das Freizeitpark-Venedig, das viele vielleicht erwarten, und schon gar keine Stadt, die trostlos ihrer glorreichen Vergangenheit nachtrauert.
Ganz im Gegenteil: Obwohl diese Stadt jährlich von Millionen Touristen heimgesucht wird, verzaubert ihre Seele einen immer wieder aufs Neue. Sie erobert diejenigen sofort im Sturm, die nach dem echten Venedig suchen und seinen Geschichten aufmerksam lauschen.
Es gibt da eine Sache, die mich auch nach Jahren noch verblüfft: wenn Besucher nach wie vor das Casa delle Girandole – das Haus der Windräder – hinter dem Campo San Rocco aufsuchen. Es ist nur zehn Minuten vom Bahnhof Santa Lucia entfernt. Bis Anfang des 21. Jahrhunderts war die Fassade dieses Hauses übersät von Hunderten hölzerner Windräder: handgearbeitete Sonnen, Sterne und Monde’ aus den geschickten Händen von Donato Zangrossi, einem älteren Anwohner des Hauses. Giada Carraro beschrieb ihn in ihrem Buch „La Casa delle Girandole“ als Poeten und Astronomen, der von den Sternen und der Schönheit der Schöpfung fasziniert war.
Leider wurden die Windräder nach dem Ableben ihres Schöpfers zerstört. Aber immer noch kommen viele das Haus in der Hoffnung besuchen, die Windräder wieder anzutreffen und somit einer der unerwarteten Entdeckungen wieder Leben einzuhauchen, die einem so oft zufällig auf dem Weg zum Markusplatz oder Rialto begegnen. Die Windräder sind ein Symbol für das Vermächtnis, das Venedig den Einfühlsamen unter seinen Besuchern schenkt. Wenn man einmal die echten und verborgenen Seiten Venedigs kennengelernt hat, kann man sie kaum mehr vergessen. Es gibt sie an jeder Ecke. Man muss nur lernen, stehen zu bleiben und genau hinzusehen.