Der Intellektuelle

Eine Stadt, die von der Feder William Shakespeares geadelt wird, handelt sich unweigerlich Unsterblichkeit ein. Unzählige Schriftsteller, Musiker, Maler und Vertreter der Hocharistokratie verkehrten in Verona und stilisierten es zur Legende. Der Weg, den der englische Dichter für andere bereitete, inspirierte die einflussreichsten Künstler der Welt dazu, die Stadt aus ihrer eigenen Perspektive zu betrachten: Lord Byron zum Beispiel hegte eine Faszination für Veronas Monumente wie das Grabmal der Julia oder das Teatro Romano. Gabriele D’Annunzio schwärmte vom Kolorismus der venetischen Malerei des 16. Jahrhunderts. Und Charles Dickens schöpfte mit vollen Händen aus den Begegnungen seiner Italienreise, denen er später in seinen „Bildern aus Italien“ literarisches Leben einhauchte. Die Liste an Beispielen ist lang.

Piazza delle Erbe (Foro Antico)
Piazza Erbe von dem Torre dei Lamberti aus
LIBRERIA LIBRE! Verona
Buchhandlung „Libre!“
GIARDINO GIUSTI Verona
Im Giusti-Garten

Ich mache mich also auf den Weg zum Giusti-Garten, biege in die Via Santa Maria in Organo ein, und die Verse von Goethe hallen in meinem Kopf wider. Mit seiner „Italienischen Reise“ trug der große Dichter dazu bei, Verona seinerzeit zu einem absoluten Muss für junge Deutsche und Engländer auf Bildungsreise zu machen. Deren Grand Tour stand übrigens Pate für das heutige Erasmus-Programm. Für Goethe war Verona die wichtigste Stadt des italienischen Stiefels. Hier erfreute er sich an der Einfachheit der Dinge, verfiel dem Farbenspiel des Sonnenuntergangs und schwelgte in Gegenwart seiner Zypresse im Garten des Conte Giusti in Nostalgie.

In seinen Tagebüchern und Reiseaufzeichnungen huldigte der Dichter der literarischen Figur des Baumes, dessen Äste sich stets frei gen Himmel recken. Der Baum stand für Goethe als Sinnbild für die metaphorische Schönheit der Poesie und einen realen Ort der Ruhe, in dessen Schatten man sich getrost dem Müßiggang hingeben kann. Die Zypresse, die Goethe damals so faszinierte, existiert heute noch inmitten des neoklassischen Giusti-Gartens mit seinen verspielten grünen Heckenlabyrinthen. Sie trägt eine kleine Gedenktafel, die an ihre illustre Vergangenheit erinnert. Nur wenige Hundert Meter von Goethes Zypresse entfernt erhebt sich Veronas Castel San Pietro.

Schon der italienische Dichter Giosuè Carducci schrieb in „La Leggenda di Teodorico“: „Auf die große Burg in Verona scheint die pralle Mittagssonne.” Die Zeilen, die der erste italienische Literaturnobelpreisträger für das Schloss San Pietro bereithält, malen ein beinahe greifbares Bild und lassen auch die Etsch nicht außer Acht, jene „grüne“ Wasserader Veronas, die so unnachahmlich den Rhythmus dieser Stadt bestimmt und sie mit Leben erfüllt. Was Giosuè Carducci jedoch nicht näher ausgeführt hat, ist, dass man, um das Schlosstor zu erreichen, Hunderte Stufen bezwingen muss, ein Aufstieg würdig einer Bergetappe für Profiradfahrer.

Brunnen Madonna Verona im Foro Antico, Piazza delle Erbe

Ist man wieder bei Atem und Kräften, wird der Abstieg ein vergnügliches Unterfangen, sobald der Blick auf die Provianda di Santa Marta fällt. Dieses Industriedenkmal im Stadtteil Veronetta war früher eine Brotfabrik und ist heute ein Hort des Wissens. Das Areal umfasst 25.000 Quadratkilometer und wurde von der österreichischen Militärverwaltung zwischen 1863 und 1865 erbaut.

Ursprünglich als Fabrik für Brot und Schiffszwieback angelegt, beherbergt die Provianda di Santa Marta heute den wirtschaftswissenschaftlichen Zweig der Universität von Verona. Dazwischen wurde sie als Kaserne genutzt, und ganz früher, genauer gesagt 1212, entstand hier ein Mönchskloster. Der äußerst vielschichtige Komplex hat sich trotz diverser Veränderungen seinen frühindustriellen Charme und den neoromanischen Baustil bewahrt. Kultur und Architektur waren in ganz Verona schon immer stark verwoben.

Wenn ihr dem Verlauf der Etsch folgt, werdet ihr auf die Buchhandlung Libre! stoßen. In diesem Emporium spielen Bücher, Events, Ausstellungen und Yogakurse neben regionalen Bio-Weinen die Hauptrolle. Das Libre! widmet sich aufstrebenden Qualitätsverlagen und bietet denjenigen eine echte Alternative, die nicht einfach nur Lesestoff suchen, sondern Lust haben, in einer Art literarischem Salon für ein paar Stunden vor der Welt zu flüchten.

Unsere nächste Etappe, wenn man dem Lauf der Etsch folgt, ist die zeitgenössische Galerie La Giarina, Veronas Anlaufpunkt für die Avantgarde. Seit fast 30 Jahren ist die Galerie immer auf der Suche nach zeitgenössischen Künstlern aus Italien und der ganzen Welt – von den Modernisten des 20. Jahrhunderts bis zu den kreativen Köpfen der Gegenwart. Das stilvolle Ineinandergreifen von Kontrasten macht La Giarina zur architektonischen Ikone: vom Eingang und von der Vorhalle mit neoklassischen Fresken über den kleinen Innenhof, einem der letzten Bollwerke der Romantik, bis zur Konzeptkunst im Inneren.

Die mit Fresken verzierte Bibliothek in der Sala Morone, Franziskanerkloster San Bernardino
Die mit Fresken verzierte Bibliothek in der Sala Morone, Franziskanerkloster San Bernardino
GIARDINO GIUSTI
Im Giusti-Garten

Nach unserer kleinen Landpartie wird es Zeit, wieder ans Westufer der Etsch zurückzukehren, ins Zentrum des kulturellen Lebens. In diesem historischen Viertel bietet jeder Schritt Einblicke in ein jahrtausendealtes Gesamtkunstwerk. Dazu gehören selbstverständlich die Arena di Verona und das Forum Romanum, das auf die Piazza delle Erbe mündet. Ein paar Kilometer weiter erreicht man das Franziskanerkloster Monastero di San Bernardino, eine Perle der Gotik fernab der ausgetretenen Touristenpfade. Im Inneren versteckt sich wie ein gut gehütetes Geheimnis der Sala Morone, eine Bibliothek mit Fresken von Domenico Morone und seinem Sohn Francesco aus den Jahren 1494 bis 1503.

Die Schönheit der Malerei ist auch für diejenigen eine unvergessliche Augenweide, die für Religion sonst nicht so viel übrighaben. Aber verlasst das Kloster nicht, ohne seine Schatzkammer, das Museo Canonicale besucht zu haben. Auf den Überresten einer frühchristlichen Basilika errichtet, deren Mosaikböden immer noch sichtbar sind, zählt es heute zu den faszinierendsten Bauten Veronas. Es vereint archäologische Funde aus der Römerzeit, wertvolle sakrale Gegenstände sowie kostbare Skulpturen und Gemälde aus den 7. bis 17. Jahrhundert unter einem Dach.

Das Teatro Ristori hingegen katapultiert uns ins 19. Jahrhundert. 1837 eröffnet, wurde seine Bühne unter anderem von Größen wie Totò, Ugo Tognazzi und Dario Fo, Paolo Conte und Chick Corea bespielt. 2011 wurde es nach langer Restaurierungsphase wiedereröffnet und bildet nun eine Brücke zwischen Veronas schillernder Vergangenheit und seiner glänzenden Zukunft.

Galerie La Giarina
Galerie La Giarina
Provianda di Santa Marta
Provianda di Santa Marta

Ganz in der Nähe treffen wir auf die ehemalige Garage FIAT (Ex Garage FIAT) auf der Via Manin, ein weiteres Industriedenkmal der Stadt. Es entstand unter der Leitung von Ettore Fagiuoli, des Architekten, der auch für die Renovierungsarbeiten in Verona zu Beginn des 20. Jahrhunderts verantwortlich war. Die Ex Garage FIAT wurde 1916 fertiggestellt und war die erste FIAT-Niederlassung der Stadt.

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass es sich um ein Meisterwerk der Art-Déco-Architektur handelt, dessen Eisengerüst nicht nur stützt, sondern gleichzeitig allen stilistischen Elementen Form verleiht. Es gibt allerdings einen Wermutstropfen: Leider beherbergt dieses herrliche Beispiel des Art Nouveau aktuell einen Supermarkt. Aber den Blick von außen auf das Gebäude sollte man sich nicht entgehen lassen.

Verona hat viele Facetten und ist stolz auf seine Stilvielfalt. Geprägt vom Einfluss verschiedenster Epochen, erzählt die Stadt ihre Geschichte mithilfe der Architektur: von der Römersiedlung über den mittelalterlichen Stadtstaat bis zur Besetzung durch die Venezianer und die Habsburger. Verona ist ein kleines Freilichtmuseum mit großem Einfluss, das auch mit wachsenden touristischen Ansprüchen Schritt halten kann. Ein Ort, an dem Kunst und Kultur eine fast symbiotische Beziehung eingehen und der Jahr für Jahr weitere Facetten hinzugewinnt. Verona ist weit entfernt vom Klischee der italienischen „Stadt der Liebe“, auf das es so lange reduziert wurde.

di Valerio Stefanori

Teatro Ristori

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