„Im Zentrum von Bologna verirrt sich noch nicht einmal ein Kind,“ singt Lucio Dalla, einer der bekanntesten italienischen Sänger, gebürtiger Bolognese und Bürger der Stadt von 1943 bis 2012. Wahrscheinlich kann niemand besser als er von seiner Stadt erzählen, und seine Worte sind der wohl wertvollste Reiseführer für meine Reise nach Bologna.
Der Insider
Die Piazza Maggiore ist der Platz der Bologneser, im wahrsten Sinne des Wortes. Grüppchen von Männern, die über Fußball und Politik diskutieren, stehen hier zusammen mit Touristen, Straßenkünstlern und Familien. An den vier Seiten befinden sich die Basilika San Petronio, der Palazzo D’Accursio – historischer Sitz der Stadtverwaltung –, die Arkaden des Palazzo del Podestà und die Arkaden des Archiginnasio. Wenige Meter entfernt blickt eine imposante Neptunstatue auf meine erste Etappe in der Stadt.
Die Sala Borsa ist eine zukunftsweisende multimediale Bibliothek, untergebracht in einem Palast mit einer so langen und so reichen Geschichte, dass er beinahe unvergänglich zu sein scheint. Vom Mittelpunkt der circa 400 Quadratmeter großen überdachten Säulenhalle aus erblicke ich in großer Höhe ein Dachfenster im Jugendstil. Unter meinen Füßen bedeckt ein Glasfußboden Reste aus römischer Zeit.
Wie sein Name schon besagt, war das Gebäude Ort geschäftlicher Verhandlungen: 1870 stampften auf diesem Boden, auf dem heute Tausende von Studenten und Lesenden herumlaufen, die Hufe von Ochsen und Pferden, die versteigert wurden. In den 1960er-Jahren wurde in der Sala Borsa sogar Basketball gespielt. Sie war das heimische Spielfeld der glorreichen Mannschaften der Stadt. Heute kann man hier aber nicht nur Bücher, Zeitungen, Ton- und Bildmedien ausleihen oder studieren: Fotoausstellungen und Modelle blicken in die Zukunft Bolognas und vermitteln ein gutes Bild von der künftigen Stadtplanung.
„Die ist eine Maria della Vita“ ist eine alte Redensart, aber mancher betagte Bologneser nutzt sie immer noch, wenn er auf eine leidende und verwahrloste Frau stößt. Wenn Sie wissen wollen, warum, dann müssen Sie die Kirche Santa Maria della Vita in der Via Clavature 10 des Quadrilatero-Viertels besuchen. Angesichts der „Beweinung Christi“ bleibt hier kein Herz kalt: Die sieben Terrakottafiguren, die zwischen 1463 und 1490 von Niccolò Dall’Arca geschaffen wurden, zeigen die Muttergottes, Maria Magdalena und den Jünger Johannes, und die Verzweiflung scheint in ihre Gesichter eingebrannt. Es ist ein zutiefst menschlicher Schmerz ohne Mystik und künstlerische Filter und damit einzigartig für diese Epoche.
In der Via Castiglione tauche ich wieder aus dem Gassengeflecht des Quadrilatero-Viertels auf. Ziel ist die Piazza Santo Stefano – „die gute Stube der Stadt“, wie die Bologneser sagen. Die Form ist ungewöhnlich für einen Platz – fast dreieckig. Die beiden Längsseiten werden von Säulengängen eingenommen, auf der Grundlinie jedoch steht die Basilika Santo Stefano, die besser bekannt ist als Sette Chiese – „Sieben Kirchen“. Das hohe Eisengitter umfasst nicht eine, sondern sieben heilige Stätten, die in verschiedenen Epochen nebeneinander, übereinander und ineinander erbaut wurden. Stellen Sie sich gerade ein stilistisches Chaos vor? Ach woher! Der Blick auf die Fassade der Basilika ist wunderschön. Bestellen Sie sich in einem der Cafés unter den Bogengängen etwas zu trinken und beobachten Sie, wie dieser Platz zur regelrechten Bühne wird.
Der Charme der Piazza Santo Stefano hat noch andere Seiten. Eine davon findet ihr bei Da Gino. Glänzende Spiegel, Marmorfußböden, Friseurstühle, und alles blinkt und blitzt, als wäre der Salon erst gestern eröffnet worden. „Aber ich bin schon seit 20 Jahren da. Vor mir war Gino hier, der Eigentümer, 62 Jahre lang. Ich habe seinen Namen behalten, weil er in Bologna eine Institution war“, erzählt Francesco, der sein Handwerk in seiner Heimat Kalabrien erlernt hat. „Seit ’44, als es nach dem Krieg renoviert wurde, ist dieses Geschäft unverändert geblieben. In den 60er- bis 70er-Jahren gab es 3000 Herrenfriseure in Bologna, jetzt kommt man nicht mal auf 300“. Aber Francesco bleibt und hält damit ein Stück Bologneser Geschichte und einen typisch italienischen Ort lebendig, an dem Menschen zusammenkommen. Ihr Bart muss getrimmt werden, Ihre Haare brauchen einen neuen Schnitt? Vergessen Sie Ihren Rasierapparat und machen Sie es sich bei Da Gino bequem.
Frisch rasiert finde ich mich wenige Minuten später am Fuße der Zwei Türme wieder – Asinelli und Garisenda –, den Wahrzeichen der Stadt. Von den 97 Metern des Torre degli Asinelli genießt man einen atemberaubenden Blick über die gesamte Altstadt. Aber Vorsicht! Als Student ohne Abschluss sollte man die 498 Stufen lieber links liegen lassen, sonst riskiert man, keinen Abschluss mehr zu erlangen. Das zumindest glauben die Studenten schon seit Urzeiten. Italien ist das Land der Abergläubischen – aber das haben Sie sicher schon gemerkt, oder?
Das Jüdische Ghetto Bolognas erfüllt alles mit einem gewissen Zauber. Von der Piazza di Porta Ravegnana aus geht man hinunter in die Via dell’Inferno – der Eingang zu einem Labyrinth aus kleinen Straßen, Plätzen, Bögen und einem der Türme (von denen es im Mittelalter Hunderte gab), die zwischen den Gassen des Zentrums versteckt sind. Wie in vielen europäischen Städten litten die jüdischen Familien auch in Bologna unter Ausgrenzung und Ausweisung – Erstere geht auf das Jahr 1569 zurück und Letztere geschah 1938 durch das faschistische Regime. Das Ghetto war durch Tore verschlossen, hatte eine eigene Synagoge, an die heute in der Via dell’Inferno 16 ein Gedenkstein erinnert, und wimmelte von Märkten und Läden. Diese Lebendigkeit spürt man noch heute dank der vielen Handwerker, die sich hier ansiedelten. Hier wechseln sich Schneider und Schuster mit Cafés und Kunstateliers ab.Ich lasse das Ghetto hinter mir und gehe weiter zum Säulengang Portico di San Luca. Die Bologneser sind sich sicher, dass er mit seinen vier Kilometern Länge der längste der Welt ist. Der Portico führt vom Zentrum bis auf den Hügel Colle della Guardia auf 300 Metern Höhe. Oben bildet das Kloster San Luca mit seiner Kuppel eine postkartenwürdige Skyline. Am Ende der Via Saragozza endet der ebene Teil des Säulengangs und der Anstieg beginnt.
Der Meloncello-Bogen, eine Art kreisförmiger Balkon im Barockstil, markiert den Scheidepunkt. Nur wenige Schritte entfernt ist Zeit für eine kleine Erholungspause: Die Bar Billi ist stadtbekannt für ihr panspziel, das „Panspeziale“ – ein Gewürzbrot, das mit kandierten Früchten und Trockenobst gefüllt ist. Sein köstlicher Geschmack ist legendär, die Bologneser sind verrückt danach und vor Weihnachten herrscht immer dichtes Gedränge im Café.
Auf dem Rückweg gehe ich vom Meloncello-Bogen aus in die etwa 600 Meter lange Via del Pratello, eine enge und lebhafte Gasse, in der man schon immer die Nacht zum Tag machen konnte. Es war der Treffpunkt der Biassanot („Nachtschwärmer“ im Bologneser Dialekt) – Faulpelze, die bis zum Morgengrauen von einer Kneipe zur anderen zogen. Wenn diese Spezies auch vom Aussterben bedroht ist, so lebt ihr Erbe doch in den Lokalen der Via del Pratello weiter. Hier findet man eine große Auswahl an Bars, Pubs, Kneipen und Restaurants, die immer voll und manchmal auch etwas laut sind. Orte, an denen man einfach mit dem Tischnachbarn ins Gespräch kommt oder am Tresen in eine heiße Diskussion verwickelt wird.
Ich habe das Herz der Stadt durchwandert, um den Geist Bolognas einzufangen. Aber man kann Bologna auch von außerhalb seiner Stadtmauern kennenlernen. Auf der anderen Seite der Galliera-Brücke in der Nähe des Bahnhofs befindet sich der letzte Stein meines Bologna-Mosaiks: Bolognina. Das Stadtviertel wurde Ende des 19. Jahrhunderts für Eisenbahner errichtet und beherbergte nach der industriellen Revolution des 20. Jahrhunderts Arbeiter. Heute hat Bolognina viele Gesichter und wandelt sich zum echten multiethnischen Schmelztiegel. Die Sozialbauten mit den für Bologna typischen roten Ziegelsteinen und den gusseisernen Balkonen verleihen den langen Alleen wie der Via Niccolò Dall’Arca und der Via Lionello Spada ihren ganz eigenen Charakter.
Entlang der Gehsteige reihen sich afrikanische Lebensmittelläden, nigerianische Friseure und senegalesische Schneidereien, deren bunte Stoffe die Straße beleben, aneinander. Bolognina ist wie ein Blick in eine echte multikulturelle Stadt. Wenn Sie eine Pause einlegen wollen – in der Via Luigi Serra liegt das Fermento. Eine hervorragende Auswahl an handgebrauten Bieren, die Einrichtung im Vintage-Stil und Bilder und Fotografien junger einheimischer Künstler verleihen dem Pub einen internationalen Touch.
Ein kleines Juwel will ich Ihnen noch zeigen, bevor ich Bologna verlasse. In der Via Pella in der Nähe der zentralen Via Indipendenza gibt es ein kleines Holzfenster an der Wand unter den Arkaden. Drum herum stehen die Inschriften von Menschen, die es geöffnet haben. Tun Sie es Ihnen gleich und entdecken Sie, dass auch Bologna – wie Venedig – von Kanälen durchzogen ist. Die Kanäle Navile und Reno ermöglichten es den Seidenhändlern früher, ihre Produkte zu exportieren, und noch heute durchfließen sie die Stadt. Bologna steckt voller Überraschungen. Also seien auch Sie offen für das Unerwartete!
di Leonardo Tancredi